Von Afrika nach Duisburg

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©DIE ZEIT – 4 mai 2007
Von Afrika nach Duisburg – der Regisseur Peter Brook gastiert bei der Ruhrtriennale. Ein Gespräch
Von Peter Kümmel

Mr. Brook, bei der Ruhrtriennale werden Sie in Duisburg ein Stück uraufführen, das uns ins traditionelle, animistische Afrika zurückführt: ≥Tierno Bokar„. Was fasziniert Sie an der afrikanischen Kultur?
Es besteht dort noch ˆ manchmal nur in Spuren ˆ eine Qualität des menschlichen Zusammenlebens, die im Westen verloren gegangen ist. Als die europäischen Kolonisatoren in Afrika ankamen, sahen sie, dass die Einheimischen nackt waren und in Lehmhütten wohnten. Die Neuankömmlinge schlossen, dass es sich um Primitive handeln müsse. Da hatten sie in Asien anderes gesehen, großartige Gebäude, eine hochstehende Kultur, die zu berauben sich lohnte. Was die Europäer nicht erkannten und bis heute nicht wirklich verstehen, ist, dass die Afrikaner etwas entwickelten, das so komplex und hoch entwickelt war wie die Kultur Asiens. Die Architektur der Afrikaner ist die Architektur des menschlichen Zusammenlebens ˆ das komplexe Gebilde des sozialen Umgangs. Es geht in Afrika nicht um Strukturen, sondern um behavior.
Haben wir Europäer diese Lebenskunst nie beherrscht, oder haben wir sie nur verloren?
Natürlich existierte diese Kunst in jedem Teil der Welt. Aber die Zeit bewegt sich in Zyklen. Und derzeit bewegt sich der Westen auf rasante Weise kulturell abwärts. Die Qualität der menschlichen Beziehungen geht rapide verloren. Es herrscht eine Weltkultur des Kommerzes. Diese Entwicklung lässt sich nicht stoppen, so wenig, wie man einen rasenden Zug mit bloßer Hand stoppen kann. All das führt dazu, dass im Westen viele Menschen noch reicher werden und noch länger gesund bleiben; aber der Preis dafür ist die Degradierung des Zusammenlebens. Die Familien werden kleiner, die Paarbeziehungen zerbrechen, es ist ein großer Schrumpfungsprozess.
In Ernst Blochs ≥Prinzip Hoffnung„ heißt es sinngemäß: Die wahre Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende der Geschichte; wir leben noch in einer Art prähistorischer Zeit.
Das ist der Gedanke eines hoffnungsvollen Mannes. Ich selber bin weder optimistisch noch pessimistisch. Ich versuche nur zu sehen, was da ist. Eine berühmte Zeile von T. S. Elliot heißt ≥The end is our beginning„. Vielleicht ist das wahr, dennoch weiß ich nicht, ob es Ihnen oder mir hilft zu spekulieren, was in der Zukunft, am Ende der Geschichte passieren könnte. Das Einzige, was uns jetzt interessiert, ist das, was uns jetzt hilft. Und die entscheidende Frage lautet nicht: Wie erlangen wir Hoffnung? Sondern: Wie kommt es, dass wir die Hoffnung immerzu zerstören? Dass wir sie verraten? Auf Hoffnung zu hoffen hat keinen Sinn. Es ist wie mit der Aufforderung an einen Agnostiker: Du musst glauben. Das bewirkt das Gegenteil. Aber wenn man sich selbst genau erforscht ˆ was ist dein größtes Hindernis? Was hält dich davon ab, das zu finden, was du dir am sehnlichsten wünschst? ˆ, dann wird die Hoffnung sich zeigen.
Stellt das Theater diese Fragen?
Das Großartige am Theater ist, dass am Ende des Abends ein paar wenige Leute mit ein bisschen mehr Mut nach Hause gehen. Mehr kann es nicht erreichen.
Man weiß von Ihnen, dass Sie sich für Theaterkunst eigentlich nicht interessieren. Weshalb machen Sie noch Theater?
Im Lauf der Jahre habe ich das Interesse an ≥Inszenierungen„ verloren. Ich fühle mich nicht als Theaterkünstler, und ich will nicht bis zum Ende meines Lebens Theater machen. Früher fand ich das Bühnenleben sehr aufregend, jetzt ist es für mich nur noch ein Mittel, Themen ans Licht zu bringen.
Sind Sie noch an der Entwicklung neuer Theaterformen interessiert?
Die Entwicklung von Theatertechniken und Darstellungsformen war eine Aufgabe der fünfziger und sechziger Jahre. Heute ist es fast unmöglich, im Theater etwas Neues zu machen. Wir haben schon alle Arten von Licht- und Schalleffekten, Projektionen, Pseudorealitäten. Die Technik entwickelt sich von allein weiter, sie braucht unsere Aufmerksamkeit gar nicht. That‚s not our business. Jede Popgruppe treibt die Darstellungsformen bis an die Grenzen, da gibt es keine Überraschungen mehr. Die letzte Überraschung auf dem Theater bereitet das handelnde menschliche Wesen.
Haben Sie je an das so genannte politische Theater geglaubt?
Ich weiß, in Deutschland spielt es eine entscheidende Rolle, aber ich glaube nicht daran. Denn es ist zur einseitigen Negativität oder zur blinden Propaganda verdammt. Das wahre politische Theater, das ich suche, vermag im selben Moment beides zu zeigen: das Ideal und den Verrat am Ideal; die Pervertierung der Idee und die Idee selbst, die Zerstörung der Vision und den Glanz der Vision. Auf der Bühne muss beides aufscheinen, das ist die idealistische Natur des Theaters. Wenn das Theater nur das Ideal zeigt, wird es niemanden berühren, weil es weltfremd ist. Wenn das Theater nur die Zerstörung zeigt, den Missbrauch, die Korruption, ist das ein Akt der Gewalt gegen das Publikum.
Sie haben sich immer wieder an Orte der größten Hoffnungslosigkeit begeben und dort optimistisches Theater gezeigt.
Wir haben in den südafrikanischen Townships ein Stück gespielt, Woza Albert!, das den Horror des Lebens unter der weißen Herrschaft und die pure Freude am Dasein zeigte; Glück und Trauer waren untrennbar vermischt. Das ist für mich das wahre Theater. Auf seine Weise gelang das auch Brecht, den ich kannte und dessen Produktionen ich sehen konnte. Sein Theater war voller Freude. Es enthielt die Anklage und den Jubel, die Kritik an den Verhältnissen und die Feier des Daseins.
Kürzlich haben Sie Becketts ≥Glückliche Tage„ inszeniert. Ist das nicht auch ein Werk, das die größten Gegensätze vereint?
Oh ja. Beckett, der in die Dunkelheit wahrhaft verliebt war, ein Pessimist vor dem Herrn, schrieb da ein erstaunlich helles Stück. Von seinen drei großen Stücken ˆ Endspiel, Warten auf Godot, Glückliche Tage ˆ hat nur dieses eine weibliche Hauptfigur. Sie existiert zwischen einem Licht, das sie nach oben zieht, und einer Verzweiflung, die sie nach unten zerrt. Die dunkle Lebensfreude, die sich da ausdrückt, ist einmalig in Becketts Werk ˆ es ist der Moment, da er den Weg aus seiner persönlichen Finsternis gefunden hat, mit einer Frau als Protagonistin. Keines seiner Männerstücke hat diese Helligkeit. Vielleicht liegt Hoffnung in dem Gedanken, dass jeder Mann eine Frau in sich hat und jede Frau einen Mann.
Sind Sie religiös? Woran glauben Sie?
Mein größter Wunsch wäre es, in vollem Ernst sagen zu können: Ich glaube an nichts. Ich weiß, das ist unmöglich, denn wir glauben immer an irgendetwas. Im Moment glaube ich an das Gespräch, das wir gerade führen. An den Austausch zwischen uns.
Was ist denn das Tröstliche am Nichts?
In Shakespeares Lear fragt Lear seine Tochter Cordelia, was sie sagen wird, um ihn ihrer Liebe zu versichern. Und Cordelia sagt: ≥Nothing, my Lord„. Aus ihrem Mund ist das etwas überwältigend Positives. Lears andere Töchter fassen ihre Liebe zu ihm in Worte, erklären sie aufwändig. Für Cordelia dagegen ist ≥nichts„ ein Wort noch jenseits des Wortes Liebe, es ist absolut. Und Lear, weil er wütend und auch klug ist, sagt: Nothing comes from nothing„. Da sind nun zwei Arten von nichts, two nothings, im Spiel und stoßen gleichsam zusammen: Da ist das Nichts der absoluten, zerstörerischen, zynischen, leeren Leblosigkeit, und dann ist da das Nichts, das über Hoffnung, Gott, das Universum hinausführt ˆ als die überlegene Quelle des Lebens. Dorthin würde ich gern gelangen. Auf dem Weg in dieses Nichts behelfen wir uns mit dem Glauben an Kleinwahrheiten.
Mit dem Glauben an die nächste Theaterproduktion, die nächste Mahlzeit, den nächsten Atemzug?
Wir leben von den Wahrheiten des Augenblicks. Und das ist auch dem Theater eingeprägt: die Möglichkeit, im selben Augenblick zu glauben und nicht zu glauben. Echtes Theater hat diese Qualität. Der Schauspieler glaubt absolut an das, was er da gerade tut ˆ und zugleich glaubt er nicht im Mindesten daran. Dasselbe gilt fürs Publikum. Es ist gebannt von den Geschehnissen auf der Bühne und versucht sich gleichzeitig vor den Grippeviren des Sitznachbarn zu schützen. Glauben und Nichtglauben im selben Moment ˆ darum dreht sich das ganze Theater. Deshalb kann es für Momente ein wahreres Bild des Lebens geben als das Leben selbst.
Was halten Sie von der Meinung, die ganze Welt sei eine Bühne und das professionelle Theater also überflüssig?
In den sechziger Jahren war das ein gängiger Satz: Wozu brauchen wir Bühnen, wenn die Straßen voll sind von Dramen? Nun, das ist eben nicht wahr. Im wahren Leben sind wir viel zu abgelenkt, zu zerstreut. Theater versetzt uns in die Lage, die Dinge genauer zu sehen mittels seiner Doppelbelichtung, dem Ineins von Glaube und Nichtglaube.
Was ist die Aufgabe eines Menschen, wenn er denn eine hat?
Jeder Mensch navigiert im Leben zwischen Glaube und Nichtglaube, Hoffnung und Verzweiflung. Es ist unsere Aufgabe, unseren Mitnavigatoren auf ihrer Reise beizustehen.
Aber es ist eine Reise ins Dunkle?
Ich habe mich lange mit dem Mahabharata-Mythos der Hindus beschäftigt. Er besagt, dass die Geschichte der Menschheit einem Zyklus folgt. Sie begann in einem goldenen Zeitalter; dann vollzog sich ein kontinuierlicher Abstieg, der uns in ein dunkles Zeitalter führte. Eine sehr pessimistische Vermutung, aber wenn wir uns umsehen, stellen wir fest: Sie stimmt. Es stimmt aber auch, dass dieser Zyklus der Auf- und Abstiege sich im Kleinen täglich ereignet und in jedem Augenblick präsent ist. In der Morgendämmerung öffnet sich das Feld der Millionen Möglichkeiten, und es liegt an uns, ob wir sie am Abend genützt oder versäumt haben. D. H. Lawrence schrieb ein berühmtes Buch mit dem Titel Mornings in Mexico: Jeder Morgen in diesem Land ist erfüllt von Hoffnung, aber aufgrund der pessimistischen, tragischen Natur der mexikanischen Seele befinden sich die Mexikaner am Ende des Tages in tiefer Melancholie und Verzweiflung; und sie ertränken ihre Seele in Tequila. Jedoch am nächsten Morgen ˆ phhh (Brook bläst Luft über seine leere Handfläche) ˆ beginnt alles von neuem. Der Zyklus setzt sich fort, er offenbart sich in jedem Atemzug. Natürlich ist es sehr schwer, im historischen Bewusstsein zu leben, dass wir uns weiter ins dunkle Zeitalter hineinbewegen. Und doch: Man muss darin seinen Weg finden. Es geht um die Entdeckung des positiven Nichts. Mit Hilfe der Kunst, des Austauschs zwischen Menschen, der Arbeit.
Ist der Austausch zwischen den Kulturen Ihre oberste Hoffnung?
Als wir unser internationales Theater-Zentrum gründeten, wollten wir etwas gegen den Rassismus und Nationalismus tun. Rassismus entsteht aus dem Irrglauben an die eigene Überlegenheit. Wer auf andere zugeht mit dem Bewusstsein ≥Wir wissen mehr als ihr„, weiß gar nichts. Die richtige Botschaft lautet: ≥Ihr wisst mehr als wir ˆ helft uns!„
Können uns auch die Toten helfen? Haben Sie deshalb so ein starkes Interesse an den Mythen der Welt?
Das Leben anderer Kulturen und die Erfahrung früherer Generationen ˆ all das stellt einen Schatz, einen Vorrat an potenzieller Hilfe für uns Heutige dar. Ich würde also, um auf Ernst Bloch zurückzukommen, nicht vom Prinzip Hoffnung reden, sondern vom Prinzip Hilfe.
Als Sie gerade vom Nichts sprachen, fiel mir der Philosoph E. M. Cioran ein. Eines seiner Bücher hat den Titel ≥Vom Nachteil, geboren zu sein„. Ein dummer Titel?
Ich würde das Buch anders nennen: Vom Nachteil, ein Intellektueller zu sein. Es ist eine Tatsache: Wir wurden geboren, wir sind da. Der Fluch des Intellektuellen besteht darin, sich mit irrelevanten Fragen beschäftigen zu müssen. Wenn ein japanischer Zen-Meister von einem Schüler gefragt wird, ob es ein Nachteil sei, geboren worden zu sein, wird der Lehrer seinen Schüler an der Nase packen, bis der aufschreit, und dann wird er ihn fragen: Na, bist du nun auf der Welt oder nicht?
Cioran dachte stets daran, den Nachteil des Geborenseins von eigener Hand auszubügeln; er erwog den Selbstmord, ohne ihn je zu vollziehen.
In diesem Punkt war er kein Intellektueller mehr, sondern ein intellektueller Masturbateur.
Haben Sie Achtung vor dem Akt des Suizids?
Es ist die ultimative Anmaßung eines menschlichen Wesens, sich für schlauer zu halten als die Schöpfung, die Schöpfung für misslungen zu erklären und sich selbst zu töten. Ist der Suizid ein Akt der Demut oder der Arroganz? Für mich ist er der finale Ausdruck der Arroganz.

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